Abwasser

Exorbitant hohe Umweltbelastung durch Antibiotika-Produktion

AOK, IWW und Umweltbundesamt haben in einer Studie Abwässer aus der Arzneimittelherstellung in Indien und Europa getestet. Nun fordern sie eine Änderung des EU-Arzneimittelrechts sowie einheitliche Kontrollsysteme.
10.11.2023

Der Abfluss einer Arzneimittel-Produktionsanlage in Indien mündet in einem trüben, schaumigen Gewässer.

 

Zunehmende Antibiotikaresistenzen gefährden die Gesundheitsversorgung und führen weltweit zu einer hohen Zahl an vorzeitigen Todesfällen. Aus diesem Grund startete die AOK-Gemeinschaft im Jahr 2020 unter der Federführung der AOK Baden-Württemberg gemeinsam mit dem IWW Rheinisch-Westfälischen Institut für Wasserforschung und mit Unterstützung des Umweltbundesamtes eine Pilotstudie zur ökologischen Nachhaltigkeit in der Antibiotikaversorgung.

Die weltweit erste Studie mit detaillierten Einblicken in die globale Antibiotikaproduktion wurde am Freitag in einer Pressekonferenz vorgestellt. „Unsere Erfahrungen zeigen einen dringenden Handlungsbedarf, der nicht länger in politischen Diskussionen ausgeklammert werden darf“, fasst Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, die Ergebnisse zusammen.

Gefahr für die Wirksamkeit von Antibiotika

„Belastete Produktionsabwässer sind ein wichtiger Grund für die Entstehung von Antibiotikaresistenzen, neben dem Risiko durch den massiven Einsatz von Antibiotika in der Human- und Veterinärmedizin“, stellt Malgorzata Debiak, Leiterin des Fachgebiets Arzneimittel am Umweltbundesamt, klar. Wenn sich multiresistene Keime in oder über belastete Produktionsabwässer ausbreiten könnten, wäre die Wirksamkeit von Antibiotika stark gefährdet, so Debiak.

Als bundesweite Verhandlungsführerin für die Arzneimittelrabattverträge der AOK-Gemeinschaft hatte die AOK Baden-Württemberg vor drei Jahren erstmals ein optionales Nachhaltigkeitskriterium in die Ausschreibung für Antibiotika implementiert, um Anreize für eine umweltgerechte Produktion zu schaffen. So können pharmazeutische Unternehmen bei der Vergabe einen Bonus auf ihr Angebot erhalten, wenn sie sich freiwillig verpflichten, wirkungsbasierte Maximalkonzentrationen im Produktionsabwasser einzuhalten.

Massive Schwellenwertüberschreitungen

Im Auftrag der AOK-Gemeinschaft wurden nun an zehn Standorten in Indien und Europa Messungen durchgeführt und Wasserproben auf die im Abwasser enthaltenen Antibiotika-Konzentrationen geprüft. Zudem wurden Gewässerproben der durch die Produktionsstätten beeinflussten Umwelt auf Antibiotika untersucht.

„An 40 Prozent der untersuchten Produktionsstätten konnten wir zum Teil massive Überschreitungen der vertraglich zugesicherten maximalen Wirkstoffkonzentrationen im Produktionsabwasser oder in der angrenzenden Umwelt feststellen“, beschreibt Tim aus der Beek, Bereichsleiter Wasserressourcen-Management am IWW, die Messergebnisse. Die höchste Überschreitung innerhalb der Produktionsanlagen konnte beim Antibiotikum Ciprofloxacin festgestellt werden.

Tausendfach bis millionenfach zu hohe Werte

„Bei Ciprofloxacin haben wir eine Abwasserkonzentration, die den vertraglich vereinbarten Schwellenwert um 11.000 Prozent überschreitet. Auch andere Schwellenwertüberschreitungen lagen in Größenordnungen von mehreren tausend Prozent.“

Die höchste Überschreitung wurde einem Gewässer in Indien entnommen. „Die gemessene Gewässerkonzentration des Antibiotikums Azithromycin übersteigt den ökotoxikologisch relevanten Schwellenwert um mindestens 1.600.000 Prozent. Dieses Ergebnis ist sehr besorgniserregend“, merkt der Wasserexperte an.

Das Problem trete allerdings nicht nur in Indien auf, stellt aus der Beek klar: „Von den beprobten Gewässern entstammt die Umweltprobe mit den meisten gemessenen Antibiotikafunden einem europäischen Bach.“

Politischer Handlungsbedarf

Insgesamt zeige die Pilotstudie laut Bauernfeind einen dringenden Handlungsbedaf: „Die Ergebnisse bestätigen eine enorme Belastung der Produktionsabwässer und umliegender Gewässer mit antibiotischen Wirkstoffen. Das Problem reicht dabei weit über die Möglichkeiten der Gestaltung von Arzneimittelrabattverträgen hinaus und erfordert politische Maßnahmen auf europäischer Ebene.“

Die politischen Handlungsempfehlungen haben die AOK Baden-Württemberg, das IWW und das Umweltbundesamt in einem Policy Paper zusammengefasst. Nach Ansicht der Projektpartner benötigt es Änderungen im EU-Arzneimittelrecht, um das Problem der antimikrobiellen Resistenzen bei der Wurzel zu packen. „Notwendig sind verbindliche Umweltkriterien für die Zulassung und laufende Produktion ausgewählter Arzneimittel, insbesondere Antibiotika, sowie einheitliche Kontrollsysteme zu deren Einhaltung“, fordert Bauernfeind. (hp)