Gas

Agora Energiewende: Über 90 Prozent des Gasverteilnetzes ab 2045 überflüssig

Die Denkfabrik warnt erneut vor Stranded Investments und fordert einen neuen Ordnungsrahmen für Planung und Finanzierung. Wie der finanzielle Schaden für Netzbetreiber begrenzt werden soll:
18.04.2023

Der Gesamtwert des Erdgasnetzes liegt laut Agora Energiewende bei maximal 60 Milliarden Euro. Dies entspreche in etwa 20 Prozent des geschätzten Neuwerts.

Die Denkfabrik Agora Energiewende sieht im Zuge der Klimawende künftig für über 90 Prozent der bestehenden Gasverteilnetze keine Verwendung mehr.Ohne eine geordnete Stilllegung beziehungsweise eine bedarfsorientierte Umrüstung der Netze auf Wasserstoff drohten bis 2044 gestrandete Vermögenswerte von bis zu zehn Milliarden Euro und eine Versechzehnfachung der Netzentgelte für Gaskund:innen. Das zeigt die neue Studie „Ein neuer Ordnungsrahmen für Erdgasverteilnetze“ von Agora Energiewende in Zusammenarbeit mit dem Beratungsunternehmen BET und der Rechtsanwaltskanzlei Rosin Büdenbender.

Um dies zu vermeiden, benötige es eine rasche Ausrichtung der Regelungen für die Planung und Finanzierung der Gasverteilnetze auf die Klimaziele, heißt es weiter. „Die geordnete und rechtzeitige Stilllegung der Gasverteilnetze ist eine zentrale Aufgabe in der Wärmewende. Dadurch können die Ausstiegskosten gesenkt und Planungssicherheit geschaffen werden, was Netzbetreibern und Netzkund:innen gleichermaßen zu Gute kommt“, sagt Simon Müller, Direktor Deutschland von Agora Energiewende

Denn die Kosten für den Betrieb, die Wartung und den Ausbau der Infrastruktur werden über die Netzentgelte auf die Gaskund:innen umgelegt. Je älter das Netz sei, desto höhere Kostensteigerungen drohten, wenn Neuinvestitionen auf einen dauerhaften Erhalt ausgerichtet sind.

Agora rechnet mit Stranded Investments von bis zu zehn Milliarden Euro

Gleichzeitig ist die Abschreibungsdauer der bestehenden Netze an die Nutzungszeit gebunden, die mit dem Ziel der Klimaneutralität 2045 begrenzt sei. Ohne eine vorausschauende Netzplanung und schnellere Abschreibungen ergeben sich laut Agora ab 2045 gestrandete Vermögenswerte von bis zu 10 Milliarden Euro, auf denen die Netzbetreiber sitzen bleiben.

Agora Energiewende schlägt daher eine Neuausrichtung des Ordnungsrahmens für Gasverteilnetze vor, die auf drei Säulen basiert: Auf einer effizienten Infrastrukturplanung, einem tragfähigen Rahmen für Verteilnetzbetreiber sowie der sozialen Absicherung von Netzkund:innen. Eine effiziente Planung, die eine rechtzeitige und koordinierte Stilllegung von Netzabschnitten beinhaltet, könne die jährlichen Netzkosten und damit den Anstieg der Netzentgelte halbieren.

Dies zeigten die für die Studie durchgeführten Hochrechnungen auf Basis von repräsentativen Beispielnetzen. Denn zum einen entfielen durch eine Umstellung auf klimafreundliche Wärme zusehends Betriebskosten für das Erdgasnetz. Und zum anderen kämen weniger Refinanzierungskosten auf.

"Nur ein Bruchteil des Erdgasbedarfs wird durch grünen Wasserstoff ersetzt werden"

Eine effiziente Infrastrukturplanung stellt laut dem Agora Vorschlag sicher, dass die Planungen für Wärme-, Strom- und Gas- beziehungsweise Wasserstoffnetze zusammengedacht werden und auch die Verfügbarkeit von erneuerbarem Wasserstoff berücksichtigten. „Alle großen Energiesystemstudien zeigen, dass nur ein Bruchteil des heutigen Erdgasbedarfs durch erneuerbaren Wasserstoff ersetzt werden wird“, sagt Müller. Im Schnitt gehen die Studien davon aus, dass 2045 der Wasserstoffbedarf weniger als 30 Prozent des aktuellen Erdgasbedarfs betragen wird und vor allem in Kraftwerken und Industrieanlagen anfällt.

Der Gesamtwert des Erdgasnetzes liegt heute bei maximal 60 Milliarden Euro, was etwa 20 Prozent des geschätzten Neuwerts entspricht. „Der Großteil der Netz-Investitionen ist trotz der langen Abschreibungsdauer von rund 45 Jahren bereits refinanziert, so dass der Restwert im Verhältnis zum Neuwert überschaubar ist“, sagt Müller. Allerdings sei 2021 noch die Rekordsumme von 1,1 Milliarden Euro für den Bau von neuen Erdgasnetzen ausgegeben worden. Eine verbindliche Planung könnte solche Fehlentwicklungen aufhalten und aufzeigen, welche Infrastrukturinvestitionen tatsächlich notwendig seien, so Agora weiter.

Ein tragfähiger Rahmen für Netzbetreiber

Um wirtschaftliche Nachteile auszugleichen, schlägt Agora vor, den Betreibern die vollständige Abschreibung der Netzinvestitionen bis 2045 zu ermöglichen und Stilllegungen von künftig nicht mehr benötigten Netzteilen anzureizen. Auch sollten kostenintensive Verpflichtungen zum Netzrückbau anhand klarer Kriterien auf ein Minimum begrenzt werden und stattdessen einfache Stilllegungen der Netze zur Regel werden.

Im Gegenzug sollten die aus der Stilllegung resultierenden Kosteneinsparungen der Netzbetreiber schneller an die Kund:innen weitergegeben werden. Zudem sollte eine Verpflichtung bestehen, den Netzbetrieb so lange wir nötig aufrechtzuerhalten – dies werde durch die aktuelle Vergaberegelung für Konzessionen nicht sichergestellt.

Netzkosten fair umlegen

Bei einem geordneten Ausstieg aus den Erdgasverteilnetzen ließen sich die Netzkosten 2040 – durch sinkende Wartungs- und Betriebskosten – gegenüber einem unveränderten Ordnungsrahmen zwar halbieren. Dennoch stiegen die Netzentgelte für die verbleibenden Kund:innen aufgrund der sinkenden Zahl an Gasanschlüssen.

Der Vorschlag der Denkfabrik sieht deshalb eine soziale Absicherung vor. "In Ergänzung zu einem effizienten Ordnungsrahmen, kann ein staatliches Zuschusssystem den übermäßigen Anstieg der Netzentgelte gezielt abfedern", sagt Agora Experte Müller. Grundsätzlich sollte sichergestellt werden, dass der Umstieg auf zukunftsfeste Wärmelösungen bezahlbar und zugleich zügig umsetzbar sei. (hoe)